Praxisbeispiel Hemiparese

proprio SOLE in der Therapie bei komplexen neurologischen Krankheitsbildern

Hilfsmittel nach Hirnschädigungen: Potenziale des Patienten nutzen

Von Ullrich Thiel

Bei Schädigungen des Gehirns, sei es durch einen Schlaganfall oder ein Trauma ist häufig auch die Motorik durch Lähmun-gen oder Spastiken beeinträchtigt. In der Rehabilitation wird interdisziplinär versucht, die noch vorhandenen Potenziale zu nutzen und zu aktivieren, um den Betroffenen die größtmögliche Mobilität zu ermöglichen. Wie das in diesem Beitrag vorgestellte Fallbeispiel zeigt, können dabei auch sensomotorische Einlagen einen wichtigen Beitrag leisten.

Der Schlaganfall ist die häufigste Ursache einer Halbseitenlähmung aber auch andere Schädigungen des Gehirns, wie zum Beispiel ein Schädel-Hirn-Trauma, können zu Halbseitenlähmungen führen. Wenn eine Lähmung durch eine Schädigung im Gehirn verursacht wird, kommt es in der Regel zunächst zu einer schlaffen Lähmung, in der die Muskulatur nicht willentlich aktiviert werden kann. Im weiteren Verlauf kommt es in sehr vielen Fällen zu einer spastischen Lähmung.

Bei einer spastischen Lähmung besteht immer ein Defizit der motorischen Kontrolle und eine muskuläre Dysbalance, die auf die Schädigung des sensomotorischen Regelkreises zurückzuführen ist. Besonders betroffen sind dabei die distalen Muskelgruppen der Extremitäten. Muskeln, die im gesunden Zustand gegen die Schwerkraft arbeiten müssen, neigen wiederum zu einem Hypertonus und unbehandelt zu Verkürzungen – die Gegenspieler, die Antagonisten, eher zur Schlaffheit.

Ein spastischer Hypertonus der gegen die Schwerkraft arbeitenden Muskulatur kann zum Anfang der Rehabilitation vom Patienten für das Wiedererreichen der Gehfähigkeit durchaus positiv genutzt werden. Eine zu starke Spastizität führt dagegen im günstigsten Fall nur zu einem unökonomischen Gangbild, in ungünstigen Fällen zu Gangunsicherheit mit Sturzgefahr, dauerhaften Verkürzungen der Muskulatur und starken Fehlbelastungen des gesamten muskuloskelettalen Systems.

Friederike, 29 Jahre

Im Alter von 17 Jahren erlitt Friederike eine Hirnblutung, die zur Schädigung des Sprachzentrums und zu einer Hemiparese führte. Mit physio- und ergotherapeutischer Hilfe eroberte sie sich Schritt für Schritt verschiedene Fähigkeiten zurück. Orthesen halfen in der ersten Zeit bei der Sicherung des Gangbildes. Je mehr Mobilität Friederike zurückerlangte, desto stärker war der Wunsch, sicherer zu laufen und einen „normalen“ Schuh zu tragen. Im Rahmen eines Fachseminars in der Akademie für Biomechanik und Sensomotorik wurde Friederike im Jahre 2017 erstmals mit proprio Einlagen versorgt. Spontan beschrieb sie ein sicheres und stabiles Laufgefühl. Was Friederike subjektiv empfand, konnte in der Videoaufnahme auch objektiv beobachtet werden. Im Laufe der folgenden Jahre konnte sich bei jedem Kontrolltermin eine Verbesserung der Gehfähigkeit und der Fußbelastung feststellen lassen. 

Hilfsmittelversorgung

In der Orthopädietechnik und Orthopädieschuhtechnik ist die Behandlung der Fußheberschwächen nichts Neues. Allerdings wird in vielen Fällen sehr mechanisch gedacht. Kommt der Fuß nicht hoch, wird er mittels Zügel oder federnder Elemente oder auch durch elektrische Impulse angehoben. Ist eine Spastik vorhanden, wird oft versucht, diese durch Limitierungen von Bewegungen z. B. durch stärkere Federn oder Anschläge zu kontrollieren. Dieses Vorgehen funktioniert häufig, allerdings führen sehr starke Limitierungen der Bewegungen auch zu beträchtlichen Einschränkungen der physiologischen Bewegungen und erschweren dadurch wiederum ein natürliches und physiologisches Gangbild. Selbst wenn es gelingt, die ungewollten Bewegungen der spastischen Muskulatur nicht zuzulassen, muss man feststellen, dass die Muskulatur weiterhin einen starken Hypertonus aufweist und damit eine flüssige, physiologische Bewegung enorm erschwert.

Fallbeispiel aus der Praxis

Als Physiotherapeuten mit langjähriger Erfahrung in der neurologischen Rehabilitation, haben wir in unserer Praxis eine junge Frau im Alter von 22 Jahren aufgenommen. Nach einer Hirnblutung, die bereits 5 Jahre zurücklag, zeigte sie eine Halbseitenlähmung mit starker distaler Spastizität. Sie war Fußgängerin ohne Handstock und erhielt regelmäßig ambulante Physiotherapie. Im Verlauf der Erkrankung erhielt sie zunächst hohe orthopädische Maßstiefel, später eine Carbon-Orthese mit knöchelhohen Maßschuhen. Dennoch zeigte sie ein unflüssiges, stark innenrotiertes Gangbild mit hyperextendiertem Knie in der Standbeinphase. In der Belastungsphase des Fußes verteilte sich das Körpergewicht auf die Fußaußenkante. Die daraus resultierende Überbelastung der Fußaußenkante führte zum einen zu einer Verringerung der Unterstützungsfläche in der Standbeinphase und somit zur Verstärkung der Gangunsicherheit und im Weiteren zu starken Schmerzen im Fuß, die ihre Gehstrecke reduzierten. Eine erneute Versorgung mit einer maßgefertigten Carbon-Orthese mit einstellbarem Gelenk und Orthesenschuhen brachte ähnliche Ergebnisse – das Gangbild blieb innen-
rotiert, unsicher und unflüssig. Auch die nach einem Jahr nochmals gefertigte Maßorthese und Orthesenschuhe brachte keine Änderung.

Versorgung mit sensomotorischen Einlagen

Im Rahmen meiner Referententätigkeit bei der SPRINGER Akademie erhielt ich vor eineinhalb Jahren die Möglichkeit, Frau B. als Probandin mit auf ein Seminar der Firma Springer nehmen zu können. Unsere Hoffnung an dieser Stelle war, Frau B. mittels sensomotorischer Einlagen zu einem flüssigerem, weniger stark rotiertem und supiniertem Gangbild zu verhelfen.

Zunächst wurden eine ausgiebige Ganganalyse, eine Palpation und eine Vermessung der Füße mittels Scanner durchgeführt. Auf Basis dieser Daten wurde ein individuelles Oberflächenrelief einer sensomotorischen Einlage erstellt. Primär ziele die Versorgung darauf ab, die motorisch betroffene Seite bestmöglich zu führen. Deshalb entstand zunächst die Idee, über ein laterales Druckelement im Rückfuß die Sehne des M. peronaeus longus und brevis leicht in Richtung Muskelbauch zu verschieben und eine muskuläre Reaktion in der Peronealmuskulatur zu provozieren. Dies löste sowohl einen pronierenden Effekt im USG aus als auch ein aktives Element gegen die Innenrotation des Fußes. Im medialen Rückfußbereich wurde nur ein leichter Gegenhalt zum lateralen Punkt gesetzt, um die Ferse bestmöglich zu positionieren. Ein retrocapitales Element in Stufenform wurde so platziert, dass der Klumpfuß im medialen Fußrand eine Streckung erfahren konnte. Über eine Vordehnung der Plantarfasche mittels eines retrocapitalen Elementes und eines Zehenstegs kann zudem ein leicht detonisierender Effekt gegen die Spastizität gesetzt werden. Für die taktile Wahrnehmung von Frau B. stellte sich ein Zehensteg als hilfreiche Unterstützung gegen ihre Gangunsicherheit und das Zehenkrallen heraus. 

Über das verbesserte Tasten der Füße äußerte Frau B. spontan ein subjektiv sichereres Ganggefühl. Der kontralaterale Fuß wurde mit einer leicht ausgleichenden sensomotorischen Einlage behandelt, deren vier Wirkelemente auf ein Mindestmaß reduziert eingesetzt wurden. Die Bearbeitung des Fräsmodells erfolgte durch den erfahrenen Orthopädie-Schuhtechnikmeister Stefan Woltring. Es entstand so eine passgenaue Einlage, die im Zuschliff eine Lotverlagerung nach lateral aufwies. Der Techniker arbeitete neben der Einlage auch noch den vorhandenen Maßschuh im Bereich der Ferse um. Für mich als Physiotherapeuten war dies ein sehr 
interessanter Einblick in die Arbeit von Orthopädietechnik 
und Orthopädieschuhtechnik. 

Ergebnisse

Bereits am Ende des Seminars konnte durch die Schuhverbreiterung und die sensomotorische Einlage eine wesentliche Verbesserung der Lastaufnahme festgestellt werden. Die Patientin fühlte sich deutlich sicherer durch die vorgenommenen Änderungen. 1,5 Jahre später nahmen wir Frau B. erneut zum Seminar mit. Im Fuß-Scan war eine wesentlich bessere Lastverteilung zu erkennen. Die Fußlängen hatten sich im Rechts-links-Vergleich stark angenähert. Frau B. benötigte keine Orthese mehr zum Gehen, ein stabiler Konfektionsschuh ist mittlerweile ausreichend. Im Seminar wurde ihr dann erneut eine Einlage angefertigt, die den neu gewonnenen anatomischen Gegebenheiten Rechnung trägt.

Fazit

Die Kontrolle des spastischen Fußes ist keine einfache Aufgabe und erfordert sehr viel Erfahrung und passgenaues Arbeiten. Die richtige Wahl der Schuhe und die Versorgung mit sensomotorischen Einlagen erhöhen die Standsicherheit und können gezielt die Tonusverhältnisse beeinflussen. Somit bilden Schuh und sensomotorische Einlage das Fundament der Gangrehabilitation. Eine Kombination mit Orthesen, Bandagen und Elektrostimulation kann prinzipiell erfolgen, muss aber gut abgestimmt sein.

Der Wunsch der Patientin, mit so wenig Hilfsmitteln wie möglich auszukommen, kann nur im engen interdisziplinären Austausch zwischen Physiotherapie und Orthopädie- und Schuhtechnik gelingen. Im beschriebenen Fall konnte durch den sensomotorischen Behandlungsansatz nicht nur das Gangbild verbessert werden, sondern auch die Lebensqualität der Patientin gesteigert werden. Aus physiotherapeutischer Sicht ist es unverständlich, dass die Kosten für eine qualitativ hochwertige Einlagenversorgung oftmals nicht von den 
Krankenkassen übernommen werden.

 

Erstveröffentlichung: Orthopädieschuhtechnik, 09/2019